Vom Vermissen

Ich sitze hier an meinem Platz und du sitzt nur zwei Tische weiter. Vor mir mein Glas, der Tropfen Kondenswasser am Rand rinnt in Zeitlupe hinunter – wie Schweiß oder eine Träne – und ich verliere mich in dem Licht, das er bricht.
Ich stelle mir vor, dass du mich siehst, mich erkennst und mich beobachtest und dich fragst, ob ich dich auch erkenne und woran ich gerade denke, und dabei nervös lächelst, deine schönen Hände vor dir auf dem Tisch gefaltet. Ich stelle mir vor, wie du an damals denkst. Weißt du, dass meine Tasten regenvertropft waren, als ich dir schrieb? Dass ich, glücklich und nass und warm vom Gewitter, mit dir im Kopf, nach Hause torkelnd, diese Worte an dich verfasste? Ich stelle mir vor, dass du mich ansiehst und dir vorstellst, dass ich dich betrachte, dass du dir vorstellst, meine Lippen wären dabei leicht geöffnet, dass meine Nasenflügel flattern. Ich stelle mir vor, dass du dir ausmalst, wie ich an dich denke, dass wir alleine sind, nur für den Moment, wie an den Abenden damals. Dass ich dich frage, ob du noch etwas trinken möchtest, noch ein Bier vielleicht. Dass ich dich beobachte, wie du einen Schluck aus dem Glas machst, deine Augen auf mich gerichtet. Ich stelle mir vor, wie du dir ausmalst, welche Wirkung du auf mich ausübst mit deinem Körper, der mir zugewandt ist. Wie du überlegst, ob ich sehe, dass du deinen Busen wölbst und deine Augen schließt, für immer die Verführung. Ich stelle mir deine Gedanken vor, die um mich kreisen und meine Hände, die dich liebkosen. Ich stelle mir vor, wie du mich fragst und ich stelle mir vor, wie ich nichts sage, weil es nicht mehr nötig ist, weil nichts mehr nötig ist für dich und mich. Und ich stelle mir vor, wie du mich ansiehst und alles sich zu erfüllen scheint, weil unsere Körper einander ergänzen, weil meine Haut die deine berührt. Und du bist glücklich und atemlos und du schreist und du atmest in mich hinein. Ich stelle mir vor, wie du mich ansiehst und auf meine Stimme wartest, ganz leise in diesem Moment, eine Stimme, die nichts versprechen und keine Liebe schwören darf, es aber doch so will. Ich stelle mir vor... Unsere Lippen nur noch ein Flüstern voneinander entfernt… Als wir uns das erste Mal nahe waren, da konnte ich es nicht glauben. Ich sah dich an und war fasziniert, als hätte dich eine Aura umgeben.
Ich bekomme keine Luft und atme Rauch und nehme einen Schluck, sehe auf die Uhr und sehe die Zeit nicht, nur dich, reden mit wem andern. Weißt du noch, als wir nebeneinander saßen, und mein Oberschenkel deinen berührte, während du aus dem Fenster sahst, nicht zu mir? Doch meine Gedanken sind immer noch bei dir, dir und deinen Gedanken. Ich stelle mir vor, wie du alles vergisst und alles zurücknimmst. Weil es eine andere Zeit war und ein anderes Du und ein anderes Ich und du willst mich wieder um dich. Und du verlässt den Tisch und kommst zu mir und bist still und hoffnungsvoll. Ich stelle mir dich vor, wie du mich um einen neuen Anfang bittest oder auch nicht, sondern etwas anderes. Und ich atme schwer und wünsche es mir so sehr. Der Tropfen ist fast am Ende angekommen aber ich hoffe immer noch. Und du sprichst und siehst nicht in meine Richtung. Und dann gehst du und ich bleibe sitzen. Du bist vorbeigegangen und du wirst niemals wissen.
Juli 2018

Erschienen im why nICHt Magazin Nr.8

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