La Fille


Ich bemerkte sie schon im Bus. Kann nicht mal genau sagen warum, aber sie zog meinen Blick auf sich. Zu große Jeansjacke, Doc Martens, mausbraune Haare, schmales Gesicht, schöne Haut. Vielleicht war es das.
Ich setzte mich auf einen freien Platz in ihrer Nähe, hörte Musik, lauschte meinen unzusammenhängenden Gedanken. Sie war auf ihr Handy fixiert. Schrieb mit jemandem. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht also tippte ich auf eine Freundin. Vielleicht musste sie Ratschläge erteilen.
Jung war sie auch, das fiel mir im Buslicht erstmals auf, gerade mal erwachsen geworden. Jung, aber nicht kindlich. Auch nicht verbraucht oder vom Leben gezeichnet wie man sagt, sondern ernst und bei sich.

Ich holte mein Buch aus der Tasche, plötzlich peinlich berührt von meiner voyeuristischen Neugierde, doch die Sätze vor mir ergaben keinen Sinn, die Buchstaben reihten sich in einer scheinbaren Unordnung aneinander. Lag womöglich auch an dem einen oder anderen Bier vorher. Wieder auf die Musik in meinen Ohren konzentriert, nahm ich mein Handy zur Hand und wählte die passende Melodie für meine Stimmung und während ich mich in der Playlist vor und zurück bewegte, suchte mein Blick wieder das Mädchen, nicht vorbereitet darauf, dass sie in meine Richtung blickte und unsere Augen sich begegneten.
Grau oder blau, ich konnte es nicht wirklich sagen. Noch konnte ich ihren Ausdruck deuten. Es verging vielleicht der Bruchteil einer Sekunde und der Moment war verflogen, wir blickten wieder an einander vorbei, ich immer noch in ihre Richtung schauend, ihr Gesicht wieder über das Handy gebeugt. Die Schatten, verursacht durch die draußen vorbeiziehenden Laternen und Hauslichter, bildeten interessante, sich bewegende Muster auf ihr. Sie wirkte dadurch wie eine Kunstinstallation, weniger real und doch für den Beobachter umso einladender.
Nach einigen Minuten bog der Bus um die Kurve und ich packte meine Sachen in die Tasche, während wir uns meiner Station näherten. Geistig stellte ich mich darauf ein, noch mindestens eine halbe Stunde unterwegs zu sein bis ich endlich nach Hause kommen würde und fing an, mir eine Zigarette zu drehen. Wie erwartet musste ich auf den zweiten Bus warten und setzte mich auf einen Fahrradständer um in Ruhe zu rauchen und meine Nachrichten zu lesen.
Während die Rauchschwaden in die kühle Nachtluft aufstiegen, sah ich mich um - die Dunkelheit ist schön in der Stadt und hat eine beruhigende Wirkung. Ich fühlte mich wie in eine Decke gehüllt und sah mich als Protagonistin meines Lebens mit entsprechendem Soundtrack in den Ohren. Dabei fiel mir aus dem Augenwinkel eine schlanke Gestalt neben mir auf. Es war wieder das Mädchen von vorher, offenbar war sie auch gemeinsam mit mir ausgestiegen.
Und sie sah mich unverhohlen an, ihr Gesicht ganz ruhig. Wieder war sie in Schatten gehüllt, der Wind bauschte ihre Haare auf und sie bewegten sich als wäre sie unter Wasser. Unser Blickkontakt wurde durch das nächste Ausatmen meines Zigarettenrauchs gestört, der die Sicht verdeckte, und als ich sie wieder sehen konnte, war sie von mir abgewandt.
Die Zeit verging schleichend langsam, einige Menschen gingen an mir vorbei, ein paar wenige blieben ebenfalls bei der Station stehen. Es war still und ruhig, beinahe schon andächtig, nichts drang durch die leisen Gitarrenklänge aus meinen Kopfhörern.
Als der Nachtbus dann endlich einfuhr, verließ ich dennoch erleichtert meinen Platz, denn die Müdigkeit nagte an mir und meine Gedanken waren träge, der Kopf schwer. Nur noch ein paar wenige Stationen und ich konnte mich in die Einsamkeit des Schlafes entschuldigen. Hinter mir stieg auch das Mädchen ein, setzte sich nur zwei Sitze neben mir hin, das Handy nicht mehr in der Hand, den Blick nach vorne gerichtet. Wieder erwischte ich mich dabei sie zu beobachten.
Sie bannte mich und ich konnte mir noch immer nicht erklären warum. Als sie sich durch das verworrene Haar strich, sah ich erstmals ihre Hände genauer an. Lange schmale Finger, nicht mehr ganz frischer Nagellack. Auf ihr Auftreten bedacht aber nicht überaus eitel, nicht perfektionistisch. Auf dem Handgelenk trug sie ein schlichtes Lederband.  
Ich fragte mich, ob sie wohl ein Instrument spielte oder malte. Ich stellte mir diese eleganten Hände bei alltäglichen Tätigkeiten vor. Sie bewegte sie so sparsam und anmutig.  Grazie hatte mich immer schon fasziniert und sie in dieser Zufallsgestalt zu sehen war auf eine absurde Art und Weise bedeutsam.
Ich zwang mich, meinen Blick wieder abzuwenden und mich auf die Straße zu konzentrieren, die grau unter uns vorbeizog. Bald konnte ich endlich aussteigen. Ein letztes Mal an diesem Abend stellte ich mich zur Ausgangstür und drückte den Halte-Knopf. Der Bus kam zum Stehen und die Tür öffnete sich, ich stieg hinaus und sog gierig die kalte Luft ein, die ich während der Fahrt so vermisst hatte. Im Bus roch es oft abgestanden, nach Alkohol und nach Menschen. Draußen nach Freiheit und Frieden.
Die Musik ganz leise gestellt hörte ich meine Schritte auf dem Asphalt und sah meinen Schatten mir vorausgehen. Neben mir noch einen kleineren. Aus einem konditionierten Reflex heraus nahm ich einen Kopfhörer aus dem Ohr und sah über die Schulter. Sie war es wieder, ging hinter mir, auf den Boden schauend.
Beruhigt und irritiert gleichzeitig setzte ich meinen Weg fort. Es kamen nicht so viele Fremde in meine Gegend, die in der Nacht ohnehin ausgestorben war und ich hatte sie davor noch nie gesehen. Ich war gespannt in welche Richtung sie gehen würde aber zunächst blieb sie dicht hinter mir. Meiner ursprünglichen Angst entledigt, klinkte ich mich wieder ganz in die Musik ein und suchte nach dem letzten Song dieser Episode, nach etwas Ruhigem aber Gefühlvollem. An der Grenze zwischen Wachsamkeit und Schlaf kann man sich der Nostalgie und Melancholie ganz hingeben, kann ganz viel und tief empfinden, wissend, dass eine wohlverdiente Bewusstlosigkeit in Kürze von dem empfundenen Weltschmerz befreien wird.
So bog ich in meine Gasse ein, den Schlüssel schon in der Hand haltend, das Handy und die Musik weggepackt. Vor meiner Haustür angekommen sah ich etwas das Licht der Laterne hinter mir verdecken. Das Mädchen hielt neben mir und wartete. Ich sah sie fragend an und sperrte die Tür auf, ging rein, sie hinterher. Im Stiegenhaus hörte ich ihre Stiefel ebenso wie meine, unsere Schritte hallten dumpf an den Wänden. Inzwischen war ich vor der Wohnung und wartete darauf, dass sie an mir vorbeiging um ihr einen letzten Blick zuzuwerfen. Aber sie ging nicht weiter hinauf, sondern blieb stehen, richtete ihren Rucksack und sah mir in die Augen. Wir sagten beide nichts und standen einige Sekunden regungslos da.  Ich drehte mich von ihr weg, stecke meinen Schlüssel ins Schloss, zog die Eingangstür zu mir, blickte nach hinten, betrat die Wohnung und hielt ihr die Tür auf während sie über meine Schwelle schritt.

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