Madlène

Er stand da, allein, verlassen. Wie bestellt und nicht abgeholt, mit Bier in der Hand und Buch in der Tasche. Kehrwende. Wenn die Realität dich nicht erreicht und die Fiktion zu intensiv erscheint. Will sich hingeben und kann nicht.
Also blieb er stehen, ließ den Blick schweifen und unterzog seine Umgebung einer genauen Prüfung. Vielleicht war da ja doch etwas. Etwas greifbares.
Die Musik umhüllte ihn, lullte ihn ein, die Gedanken schweiften wieder ab. Weg von dem was war, hin zu dem, was niemals sein konnte.


Aber dann, plötzlich, nahm er einen vertrauten Geruch wahr. Einen, den er seit Jahren nicht mehr verspürt hatte, der Hoffnungen und Ängste in ihm waeckte, sodass er kaum hinzusehen vermochte. Ein erdiger Duft, bodenständig und doch so leicht, so flüchtig. Langsam hob er seinen Blick, nervös und erfreut zugleich, wohl wissend, wen er sehen würde. Sein Herzschlag beschleunigte sich, seine Handflächen fingen an zu schwitzen, seine Lider flatterten.
Nach einer Sekunde, die wie eine Ewigkeit erschien, gelang es ihm endlich, seinen Fokus zu stabilisieren.


Eine schmale Gestalt, mit wilden dunkelroten Locken, einer Zigarette in der rechten Hand, die Augen in die Ferne gerichtet, rauschte an ihm vorbei.


Sie war es nicht.
Eine Fremde, die nach Heimat roch. Eine Seelenverwandte, in einem anderen Körper gefangen. Wie trügerisch doch eine Empfindung sein konnte. Wie falsch eine Hoffnung. Wie ernüchternd die Realität.


Von einem Augenblick auf den anderen war sie weg. Hilfesuchend sah er sich um. Keine Spur mehr von ihren Locken, ihrer Zigarette, ihrem Blick. Er ging vor zu Bar, hielt Ausschau nach ihr, die Schritte beschleunigend, lief er mal hier- mal dorthin, immer auf der Suche.


Dort, hinten auf den Stiegen. Neben einem Mann mit Zipfelmütze.Sie redeten, lachten, mussten nahe sein, denn die Musik war laut. Immer wieder wanderte seine Hand auf ihr Knie, sie drehte es weg. Er berührte ihren Arm, zeigte irgendwohin, schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, seine Augen starr auf die ihren gerichtet, dann auf ihren Mund, dann den Busen. Und dann von vorn. Wieder das Knie. Sie lachte noch immer, nur etwas verkrampfter, schob sich immer weiter von ihm weg, gestikulierte wild um davon abzulenken.


Dann beugte er sich zu ihr, sagte etwas, zeigt in Richtung ihres heimlichen Beobachters.
Und auf einmal gab es nur noch ihre Augen und die seinen. Ihr intensiver, strenger und gleichzeitig irritierter Blick durchbohrte ihn. Er lächelte sie an, wohlwissend, dass er ertappt wurde, dass es keinen Ausweg gab, keine Erklärung, keinen Zufall.


Das Blut rauschte in sein Gesicht, das Lächeln mittlerweile zu einer starren Fratze verzogen, trank er in schnellen Zügen sein sechstes Bier aus und ging mit wackligen Knien zu dem immer noch auf den Stiegen sitzenden Paar. Ihr Blick immer noch auf ihn gerichtet, ihn immer noch durchbohrend, fragend.
Dann war er da, es gab keinen Weg zurück, er musste etwas sagen, sich aus der Lächerlichkeit ziehen, über seine Unsicherheit hinwegtäuschen, seine Trunkenheit verbergen. Sein Mund öffnete sich, kein Laut kam heraus… und dann.
“Hey, wir kennen uns doch! Lange nicht gesehen!”
Perplex starrte sie ihn an, schüttelte den kopf, legte eine Handfläche an den Mund.
“Was?”


Es ergab doch alles keinen Sinn, was machte er hier und warum. Er machte sich lächerlich. Wieder grinsen. Fratzen machen. Mit der Hand schütteln. Sich umdrehen. Alles unnatürlich. Schnell noch ein Bier holen. Weggehen.


Sie sprang auf, war plötzlich bei ihm, zog seinen Kopf zu sich und sagte, laut, “Sorry, was hast du gesagt? Ich hab’ dich nicht gehört.” Entschuldigendes Lächeln. “Die Musik!”
“Ich muss dich mit jemandem verwechselt haben, tut mir leid.” “Ich bin Madlène.”
Sie reichte ihm die Hand. Madlène. Vielleicht konnte er sich den Namen merken. Madlène.


Im dunkelbunten Rausch der Nacht redeten sie. Tranken und lachten, rauchten, gestikulierten wild. Und immer noch dieser Geruch. Spiegelnde Lichtreflexe auf ihren Locken. Ihre Augen waren grün, umso grüner je heller es wurde. Bis zum veilchenblauen Morgen.
Die Musik war aus, die letzten Rauchschwaden verzogen sich. Eine Frage blieb. Ein Zettel wurde übergeben.


“Ruf mich an.”

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